Im Opernprojekt „chasing waterfalls“, das am 3. September in der Dresdner Semperoper uraufgeführt wird, performt eine KI erstmals live auf der Bühne und in unterschiedlichen Funktionen: mal als Co-Autorin und Co-Komponistin, mal als unterstützende Stimme des menschlichen Gesangs, mal interpretiert sie die Hauptpartie des Werks.
Als kreativ agierender Teil der Inszenierung wirkte Künstliche Intelligenz dabei schon am Entstehungsprozess der Oper mit. Auch auf der Bühne wird sie für das Publikum live zu erleben sein: Hier wird sie von einer acht Meter hohen kinetischen Lichtskulptur aus LED-Panels verkörpert, die über der Bühne hängt.
Außerdem soll das Publikum selbst Teil der Inszenierung werden: Vor jeder Aufführung können Besucher:innen freiwillig einen 3D-Face-Scan ihres Gesichts anfertigen lassen, den die KI anschließend verändert und als digitalen Strom in das Bühnenbild integriert. Seinem Titel getreu, der so viel meint wie „Unfassbares fassen wollen“, sieht das Bühnenbild des KI-Opernstücks zudem einen echten Wasserfall vor.
Künstliche Intelligenz spielt Zukunftsmusik
Laut der Initiator:innen wird der kreative Prozessteil durch den KI-generierten Algorithmus in jeder Aufführung aufs Neue in Echtzeit gestaltet, wodurch jede Performance zu einem Unikat wird. Und das Libretto, also der Textteil einer Oper, dem eine Schlüsselrolle im Werk zukommt, wurde von der Autorin und Regisseurin Christiane Neudecker geschrieben, die dabei mit KI-Textgeneratoren experimentierte.
Doch auch die klassischen Elemente sind in dem gewagten Opernstück vertreten: Co-Komponist und Dirigent ist der Hongkonger Künstler Angus Lee, der von der Sächsischen Staatskapelle Dresden sowie sechs Sänger:innen und neun Instrumentalist:innen begleitet wird.
Der Mensch im permanenten Datenfluss
Inhaltlich thematisiert das Opernstück aktuelle Gegenwartstendenzen und -phänomene im digitalen Raum. Es will untersuchen, welchen Einfluss Digitalisierung und Social Media auf unsere heutige Gesellschaft und das Individuum haben.
Denn egal, ob über Suchmaschinen, Straßen-Navigation, Social-Media-Netzwerke, Online-Shopping, -Banking oder Video-Streaming: Überall hinterlassen wir – meist bedenkenlos – unsere digitalen Spuren und kreieren mit den Daten über unsere persönlichen Aktivitäten und Vorlieben somit ein Alter Ego, eine Art zweite Persönlichkeit im Digitalen.
Aber wie viel Kontrolle haben wir noch über diesen digitalen Abdruck unseres Selbst? Wie stark wirken sich computergenerierte Algorithmen und Programme mittlerweile auf unser menschliches, soziales und kreatives Sein aus? Wann sind wir Mensch, wann vielleicht doch schon Roboter? Wie autark agiert Künstliche Intelligenz in unserem gegenwärtigen Leben?
Diesen Fragen geht chasing waterfalls in künstlerisch-gewagter Weise nach und will dabei selbst den notwendigen Denkanstoß für einen gesellschaftlichen Diskurs geben.
Gewagte Eröffnung des Premierenreigens
Das KI-Opernprojekt ist eine Koproduktion der Semperoper Dresden und des Berliner Künstler:innenkollektivs phase7 performing.arts Berlin sowie vom New Vision Arts Festival, Hongkong, wo die KI-Oper im November zu erleben sein wird.
Weitere Vorstellungen in Dresden sind für den 8. und 11. September geplant. In der Semperoper dürfte die 70-minütige cross-mediale Aufführung diesmal für einen Spielzeitauftakt 2022/2023 der experimentelleren Art sorgen.
Ob das Opernstück seine Versprechen in puncto Innovation und Spannung halten kann und was Regisseur Sven Sören Beyer über seine Erfahrungen mit der KI-gestützten Inszenierung berichtet, erfahrt ihr bei uns im Anschluss an die Uraufführung.