Kreative nutzen KI trotz Stigma und Zukunftsängsten für mehr Produktivität
Kurz & Knapp
- Anthropic hat mit einem neuen KI-gestützten Interview-Tool 1.250 Berufstätige befragt: 97 Prozent der Kreativen berichten von Zeitersparnis, 68 Prozent von höherer Arbeitsqualität – doch 70 Prozent kämpfen mit Stigmatisierung, wenn sie KI nutzen.
- Kreativschaffende äußern existenzielle Sorgen um wirtschaftliche Verdrängung: Ein Synchronsprecher berichtet, dass bestimmte Sektoren seiner Branche durch KI "im Wesentlichen gestorben" seien.
- Wissenschaftler wünschen sich zwar zu 91 Prozent mehr KI-Unterstützung in ihrer Forschung, können den Systemen aber nicht vertrauen: Der Zeitaufwand für die Überprüfung von KI-Ausgaben macht laut Befragten den Effizienzgewinn oft wieder zunichte.
Eine Studie von Anthropic zeigt: Kreativschaffende profitieren von KI-Tools, kämpfen aber mit dem Urteil ihrer Peers und der Angst vor wirtschaftlicher Verdrängung.
Anthropic hat ein neues Forschungswerkzeug namens Anthropic Interviewer vorgestellt und damit 1.250 Berufstätige zu ihrer KI-Nutzung befragt. Die Ergebnisse zeichnen ein ambivalentes Bild: Während die überwiegende Mehrheit der Befragten Produktivitätsgewinne durch KI vermeldet, kämpfen insbesondere Kreativschaffende mit sozialer Stigmatisierung und existenziellen Ängsten.
Das KI-gestützte Interview-Tool führte automatisierte Gespräche mit drei Gruppen: 1.000 Arbeitnehmern aus verschiedenen Branchen, 125 Wissenschaftlern und 125 Kreativen. Die Interviews dauerten jeweils 10 bis 15 Minuten und wurden anschließend von Forschern gemeinsam mit Anthropic Interviewer ausgewertet; zusätzlich kam ein automatisches KI-Analysetool zum Einsatz, um Themen zu clustern und ihre Verbreitung zu quantifizieren.

Produktivität steigt, Stigma bleibt
Die Zahlen für Kreativberufe fallen auf den ersten Blick positiv aus: Laut der Studie berichten 97 Prozent der befragten Kreativen von Zeitersparnis durch KI, 68 Prozent geben an, dass die Technologie die Qualität ihrer Arbeit erhöht habe. Ein Autor berichtet, seine tägliche Textproduktion von 2000 auf über 5000 Wörter gesteigert zu haben. Ein Fotograf konnte seine Bearbeitungszeit von zwölf Wochen auf drei reduzieren.
Doch diese Effizienzgewinne haben ihren Preis. 70 Prozent der Kreativen erwähnen laut Anthropic den Umgang mit Stigmatisierung durch Kollegen. Ein Kartenkünstler wird mit den Worten zitiert: "Ich will nicht, dass meine Marke und mein Geschäftsimage so stark mit KI und dem Stigma, das sie umgibt, verbunden sind."
Auch in der allgemeinen Arbeitnehmerschaft zeigt sich dieses Muster. 69 Prozent der Befragten erwähnen das soziale Stigma bei der KI-Nutzung am Arbeitsplatz. Ein Faktenprüfer schildert: "Ein Kollege sagte kürzlich, er hasst KI, und ich sagte einfach nichts. Ich erzähle niemandem von meinem Arbeitsprozess, weil ich weiß, wie viele Leute über KI denken."
Kreative fürchten wirtschaftliche Verdrängung
Ökonomische Sorgen ziehen sich laut der Studie durch viele Interviews mit Kreativschaffenden und betreffen insbesondere mögliche wirtschaftliche Verdrängung und den Wert menschlicher Kreativität.
"Bestimmte Sektoren der Synchronsprecherei sind durch den Aufstieg von KI im Wesentlichen gestorben, wie Sprecherjobs für Industriefilme", sagt ein Synchronsprecher. Ein Komponist äußert Bedenken über Plattformen, die "KI-Technologie zusammen mit ihren Musikbibliotheken nutzen könnten, um unendlich neue Musik zu generieren".
Ein weiterer Künstler fasst das wirtschaftliche Dilemma zusammen: "Realistisch betrachtet mache ich mir Sorgen, dass ich KI weiter nutzen und sogar generierte Inhalte verkaufen muss, nur um auf dem Markt mitzuhalten und meinen Lebensunterhalt zu verdienen."

Ein Creative Director räumt ein: "Ich verstehe vollkommen, dass mein Gewinn der Verlust eines anderen Kreativen ist. Der Produktfotograf, dem ich früher 2000 Dollar pro Tag zahlen musste, bekommt jetzt meine Aufträge nicht mehr."
Alle 125 befragten Kreativen äußerten laut Anthropic den Wunsch, die Kontrolle über ihre kreativen Outputs zu behalten. In der Praxis erweist sich diese Grenze jedoch als durchlässig. Viele Teilnehmer räumen ein, dass KI kreative Entscheidungen trifft.
Ein Künstler sagt: "Die KI treibt einen guten Teil der Konzepte an; ich versuche einfach zu lenken... 60 Prozent KI, 40 Prozent meine Ideen." Ein Musiker sagt: "Ich hasse es zuzugeben, aber das Plugin hat die meiste Kontrolle, wenn ich es benutze."
Wissenschaftler wollen KI-Partner, können ihr aber nicht vertrauen
Bei Wissenschaftlern zeigt sich ein anderes Bild. Sie nutzen KI primär für Literaturrecherche, Programmierung und das Verfassen von Texten; in vielen Fällen kann KI zentrale Forschungsschritte wie Hypothesengenerierung und Experimente bisher nicht verlässlich übernehmen.
Ein IT-Sicherheitsforscher erklärt: "Wenn ich jedes einzelne Detail, das mir der KI-Agent gibt, überprüfen und bestätigen muss, um sicherzugehen, dass keine Fehler vorliegen, macht das den Zweck des Agenten irgendwie zunichte." Ein Mathematiker stimmt zu: "Nachdem ich die Zeit mit der Verifizierung der KI-Ausgabe verbracht habe, ist es im Grunde dieselbe Zeit."
Dennoch wünschen sich 91 Prozent der Wissenschaftler mehr KI-Unterstützung in ihrer Forschung. Ein Medizinwissenschaftler formuliert: "Ich würde eine KI lieben, die sich wie ein wertvoller Forschungspartner anfühlt... die etwas Neues auf den Tisch bringen könnte."
Zuletzt gab es Berichte, dass generative KI bereits signifikante Beiträge zur Beschleunigung von Forschung leisten kann.
Augmentation bevorzugt, Automation erwartet
In der Studie beschreiben 65 Prozent der Befragten die Rolle von KI als augmentativ – also als Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. 35 Prozent sprechen von Automation, bei der KI Aufgaben direkt übernimmt.
Diese Selbsteinschätzung weicht von Anthropics früherer Analyse der tatsächlichen Claude-Nutzung ab, die ein nahezu ausgeglichenes Verhältnis von 47 zu 49 Prozent zeigte. Anthropic nennt mehrere mögliche Erklärungen: Nutzer könnten Claudes Outputs nach dem Chat weiterbearbeiten, verschiedene KI-Anbieter für verschiedene Aufgaben nutzen, oder ihre Interaktionen kollaborativer wahrnehmen, als sie tatsächlich sind.


48 Prozent der Befragten erwägen laut der Studie einen Karrierewechsel hin zu Positionen, die sich auf die Überwachung von KI-Systemen konzentrieren. Ein Pastor wird zitiert: "Wenn ich KI nutze und meine Fähigkeiten damit verbessere, kann es mir so viel Zeit auf der administrativen Seite sparen, die mich freimacht, um bei den Menschen zu sein."
Anthropic startet automatisierte Interview-Forschung mit KI
Das Unternehmen kündigt an, das Interview-Tool nun breiter einzusetzen. Ab sofort können Claude.ai-Nutzer ein Pop-up sehen, das zur Teilnahme an Interviews einlädt. Anthropic will die anonymisierten Erkenntnisse als Teil seiner Forschung zu gesellschaftlichen Auswirkungen analysieren und veröffentlichen.

Die Studie weist einige methodische Einschränkungen auf, die Anthropic selbst benennt: Die Teilnehmer wurden über Crowdworker-Plattformen rekrutiert, was zu Selektionsbias führen könnte. Zudem wussten sie, dass eine KI sie interviewt, was ihre Antworten beeinflusst haben könnte. Die Stichprobe erfasst zudem nur primär westliche Arbeitskräfte.
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