Ende August tritt Elon Musk vor die Kamera und zeigt Presse, Fachpublikum und Tech-Begeisterten drei Schweine. Eines davon heißt Gertrude und trägt den neuen Gehirnchip von Neuralink. Die Demonstration trifft nicht nur auf Begeisterung: Die Erwartungen nach Musks vollmundigen Ankündigungen waren wohl zu hoch.
Beispielsweise bezeichnet die renommierte US-Techseite Technology Review das Neuralink-Event als "Neuroscience Theater". Keine der versprochenen Anwendungen sei auch nur in greifbarer Nähe und es sei unklar, wie ernst es Neuralink überhaupt mit der Heilung von Krankheiten sei.
Auch die BBC fragt kritisch, ob Elon Musk seine Gehirnchip-Technologie übertrieben positiv darstelle. Und The Next Web schreibt, Musk und Neuralink hätten sich einfach nur seit hunderten von Jahren bekannte Techniken der Neurochirurgie angeeignet.
Die kritischen Reaktionen kommen nicht überraschend: Schon Elon Musks erste Neuralink-Präsentation spaltete die Medien- und Fachwelt.
Okay, zugegeben, bis wir unseren Tesla per Gedankenfunk herbeirufen oder VR-Spiele direkt im Gehirn zocken, wie Elon Musk es bei der Präsentation beschrieb, wird es dauern - wenn es überhaupt jemals möglich sein wird.
Doch überschäumendes visionäres Denken macht Neuralink nicht automatisch irrelevant. Musks Gehirnchipfirma könnte für Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI) das bewirken, was SpaceX für die Raumfahrt gelang: einen längst überfälligen Technologie-Sprung.
Invasive Gehirnchips haben das größte Potenzial
Grundsätzlich unterscheiden Experten zwischen invasiven, teil-invasiven und nicht-invasiven BCIs, je nachdem, ob die Geräte in das Gehirn, an der Schädeldecke oder gar nicht implantiert werden.
Ein operativer Eingriff ist mit hohen Risiken verbunden: Invasive Geräte wie das Utah-Array werden daher nur zur Grundlagenforschung bei Tieren oder bei Menschen in Fällen eingesetzt, in denen ein klarer Vorteil für den Patienten erkennbar und der Eingriff somit ethisch vertretbar ist – trotz der Risiken.
Langfristig könnten invasive BCIs allerlei Informationen aus dem Gehirn lesen und, die Königsdisziplin, sie auch hineinschreiben. Die Technologie verspricht so Erleichterungen oder sogar Heilung für Patienten mit Blindheit, Taubheit, Lähmungen, Angststörungen, Depressionen oder neurodegenerativen Erkrankungen.
Das ist jedenfalls die große Vision vieler Neuroforscher, so ähnlich, wie manche KI-Forscher davon träumen, eines Tages eine menschenähnliche Künstliche Intelligenz zu erschaffen.
30 Jahre alte Technik ist noch immer aktuell
Seit den 1970ern wird an Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI) geforscht. Das erste Gerät wurde schon 1978 in einen menschlichen Patienten implantiert. Fortschritte in der Materialtechnik, Neurowissenschaft und Medizin führen ab Mitte der 1990er zu leistungsfähigeren Gehirnschnittstellen.
Als Industriestandard hat sich das in dieser Zeit entwickelte Utah-Array etabliert, eine Art miniaturisiertes Silikon-Nagelbrett mit 64 Elektroden. Mit anderen Worten: Der aktuelle Stand der Technik ist 30 Jahre alt.
Dabei stand der wissenschaftliche Fortschritt keineswegs Jahrzehnte still. Forscher entwickelten Dünnfilm-Elektroden, Chips mit 1.000 Kanälen und andere Technik. Allerdings existiert bis heute kein medizinischer Gehirnchip, der diesem aktuellen Forschungsstand entspricht.
Ein ähnliches Bild zeigte sich in der Raumfahrt, in der Raumfahrtbehörden lieber auf altbewährte Technik setzten, statt Fehlschläge zu riskieren. Dann investierten die Regierungen hunderte Millionen US-Dollar in private Raumfahrtunternehmen wie Musks SpaceX und moderne Technologien wie wiederverwendbare Raketen oder mit Flachbildschirmen ausgestattete Raumkapseln lösen nach und nach die alte Technologie ab.
Dieses SpaceX-Prinzip wenden Musk und Neuralink auf Gehirnchips an - und zeigten das bei ihrer Präsentation.
Aus dem Labor ins Gehirn
Es gibt auch positive Reaktionen auf Neuralink: Thomas Stieglitz, Professor für Biomedizinische Mikrotechnik, ist beeindruckt, wie schnell Neuralink mit einem Gehirnchip beim aktuellen Stand der Technik angekommen ist. Der chirurgische Roboter, der bald die komplette Implantation automatisiert durchführen soll, sei wohl die offensichtlichste Innovation.
Doch auch die Schnittstelle selbst sei innovativ, so Stieglitz. Es gebe bisher nur wenige Forscher, die Gehirnchips mit 1.000 Elektroden gebaut hätten. Die kabellose Lösung sei ebenfalls ein Fortschritt, mein Stieglitz. Bei anderen Schnittstellen ragten manchmal bis zu hundert Kabel aus dem Kopf.
Neuralinks BCI sei so etwas wie der Mercedes Benz unter den Gehirnchips, scherzt Stieglitz. Vielleicht keine Revolution – aber ein ziemlich gutes Produkt.
Der Neurowissenschaftler Prof. Dr. Pascal Fries sieht die Hauptinnovation Neuralinks darin, dass Musk knapp 100 Menschen aus unterschiedlichen Fachrichtungen für ein produktorientiertes BCI-Projekt zusammenbringt.
Es seien keine magischen Erfindungen notwendig, um Gehirnschnittstellen voranzubringen. Die notwendigen Technologien existierten bereits, so Fries.
Technologie löst Probleme nicht im Alleingang
Moderne Neurotechnologie, wie sie Musk baut, würde dringend benötigt, sagt auch der Neurochirurg Prof. Dr. med. Alireza Gharabaghi. Er vergleicht die Entwicklung der BCIs mit jener von Mobiltelefonen: Beide Technologien kamen zur gleichen Zeit auf den Markt, doch während es bei Smartphones massive Fortschritte gab, würde in der Neurochirurgie noch immer mit 30 Jahre alter Technik gearbeitet.
Mit Produkten wie Neuralinks Gehirnchip könne man wohl schon bald Patienten, denen man bereits jetzt helfen könne, noch besser helfen und die Rehabilitierung nach Schlaganfällen oder einem Schädel-Hirn-Trauma beschleunigen.
Längerfristig sei die Gehirnchip-Kommunikation zwischen Menschen oder mit einem Computer vorstellbar. Was ist mit Musks großen Visionen wie der Möglichkeit, das Gedächtnis auszulesen und Erinnerungen zu speichern? Wenn dies überhaupt machbar sei, dann in ferner Zukunft, meint Gharabaghi.
Der Neuorchirurg warnt vor einem Machbarkeitsglauben, der sich allein auf technologische Fortschritte stützt: Es brauche ein tieferes Verständnis des Gehirns, um die Schnittstellen überhaupt sinnvoll einsetzen zu können.
Nur mit hohen finanziellen und technologischen Ressourcen, ausreichend neurologischem und medizinischem Know-how und den richtigen Leuten ließen sich die Vorteile der Technologie langfristig nutzen, meint Gharabaghi.
Das klingt ganz nach einem Job für Neuralink.
Quelle: Science Media Center