Eine Versuchsperson kann über ein Gehirninterface bis zu 90 Zeichen pro Minute beinahe fehlerfrei schreiben. Möglich wird das System durch die Fortschritte der KI-Forschung der letzten Jahre.
Mitte 2017 stellte die damalige Facebook-Forscherin Regina Dugan ihre Vision vor: ein Hirn-Interface, das Wörter direkt im Gehirn errät, in dem Moment, in dem sie erdacht werden, und auf den Bildschirm bringt - Tippen per Gedankenkraft. Bis zu 100 Wörter pro Minute gab Dugan als Ziel aus.
Was damals nach Science-Fiction klang, ist seit einigen Wochen (fast) Realität: Eine nach einem Unfall vom Hals abwärts gelähmte Versuchsperson kann digital schreiben, indem sie an handgeschriebene Buchstaben denkt. Entwickelt wurde das System allerdings nicht von Facebooks Forschern, sondern an der Universität Stanford.
Und es existieren zwei Einschränkungen: Dugans Vision bezog sich auf nichtinvasive Verfahren. Die Stanford-Forscher implantieren jedoch einen kleinen Chip ins Gehirn, in etwa so groß wie ein Fingernagel. Rund 200 Elektroden hat die Versuchsperson im prämotorischen Kortex sitzen. Außerdem entschlüsselt das KI-System der Stanford-Forscher einzelne Buchstaben aus den Hirndaten statt ganzer Wörter und ist dabei noch nicht ganz so schnell, wie Dugan es beschrieb.
Nichtsdestotrotz: Die Versuchsperson kann allein Kraft ihrer Gedanken präzise und schnell tippen.
Maschine lernt Mensch
Grundlegend für diesen Durchbruch in der Gehirnforschung sind die immensen Fortschritte der KI-Disziplin: KI erkennt die feinen Buchstabenmuster, die sich im Gehirn der querschnittsgelähmten Versuchsperson bilden, wenn sich diese vorstellt, die Buchstaben handschriftlich aufzuschreiben. Dann übersetzt sie diese Signale in Echtzeit in digitale Buchstaben.
Trainiert wurde das zugrundeliegende neuronale Netz direkt mit den Gehirndaten der Versuchsperson samt der auf einen Gedankenbuchstaben folgenden Bewertung, ob der richtige Buchstabe erkannt wurde. Die Versuchsperson erzeugte den Datensatz für das KI-Training auf diese Art einfach selbst.
Nach der Trainingsphase übersetzt das neuronale Netz problemlos handschriftlich gedachte in digitale Buchstaben: Mit einer aktivierten Wortkorrektur, wie man sie vom Smartphone kennt, erreicht die Versuchsperson eine Tippgeschwindigkeit von bis zu 90 Zeichen pro Minute bei einer Präzision von 99 Prozent richtig erkannten Buchstaben. Ein durchschnittlicher Smartphone-Tipper schafft circa 115 Zeichen pro Minute.
Prägnantere Gedanken helfen bei der KI-Analyse
Eine wesentliche Erkenntnis der Stanford-Forscher ist, dass die KI-Dekodierung von Gedanken an handschriftliche Buchstaben deutlich einfacher ist als beispielsweise die Dekodierung von Gedanken an eine Punkt-zu-Punkt-Bewegung eines Cursors.
Das Entschlüsselungsverfahren für Handschrift-Gedanken ist im Vergleich zur gedachten Bedienung einer Cursor-Tastatur mehr als doppelt so schnell, und das, obwohl die Testperson seit mehr als einer Dekade gelähmt ist - also schon rund zehn Jahre lang keine Buchstaben mehr aufgeschrieben hat.
"Wir haben gelernt, dass das Gehirn seine Fähigkeit zur Vorgabe feiner Bewegungen noch ein ganzes Jahrzehnt beibehält, nachdem der Körper seine Fähigkeit zur Ausführung dieser Bewegungen verloren hat", sagt der Hauptautor der Stanford-Studie Frank Willett.
Je signifikanter der Gedanke ist, desto eindeutiger kann er erkannt werden, erklärt Willet weiter: "Und wir haben gelernt, dass komplizierte beabsichtigte Bewegungen mit wechselnden Geschwindigkeiten und gekrümmten Bahnen, wie Handschrift, von den KI-Algorithmen, die wir verwenden, leichter und schneller interpretiert werden können als einfachere beabsichtigte Bewegungen, wie das Bewegen eines Cursors auf einem geraden Weg mit gleichmäßiger Geschwindigkeit. Alphabetische Buchstaben unterscheiden sich voneinander, sodass sie leichter zu identifizieren sind."
Kürzlich demonstrierten Google-Forscher ein ähnlich beeindruckendes Projekt, bei dem maschinelles Lernen Gehirn- in Steuerungssignale übersetzt: Ein Schlagzeuger kann mit einer KI-gestützten Prothese seine verlorene Hand beinahe gleichwertig ersetzen.
Quellen: Universität Stanford, Nature; Titelbild: Universität Stanford