Für nur 175 Euro gibt's in Moskau Zugriff auf die eigenen Gesichtserkennungsdaten - natürlich nicht von offizieller Seite. Die Daten werden bei Telegram vertickt.
Beim Instant-Messaging-Dienst Telegram entdeckte die russische Datenschutzgruppe Roskomsvoboda Werbeanzeigen, die für umgerechnet 175 Euro (16.000 Rubel) Zugriff auf die eigenen Gesichtserkennungsdaten der staatlichen Moskauer Überwachungskameras versprachen. Alles, was es für die Recherche brauche, ist ein einzelnes Foto der gesuchten Person, versprechen die Anbieter.
Die Digitalaktivistin Anna Kuznetsova bestellte eines der Angebote und übermittelte dafür ein eigenes Foto. Rund zwei Tage später erhielt sie tatsächlich eine Liste mit allen Standorten, an denen sie vom Moskauer Gesichtserkennungssystem während eines Monats erfasst wurde.
Lebensprotokoll für 175 Euro
Protokolliert wurden die Uhrzeit, die Adresse sowie 79 Aufnahmen, die Kuznetsova am Standort zeigen. Die Daten wurden offenbar direkt aus dem Polizeisystem gezogen, der genaue Ursprung ist jedoch unklar.
Ein Hack oder Bestechung sind zwei mögliche Optionen für das Datenleck: Derzeit ermitteln die Behörden laut lokalen Medien gegen zwei Polizeibeamte wegen Amtsmissbrauchs und Verletzung der Privatsphäre. Laut den Aktivisten ist der Vorfall jedoch symptomatisch für ein größeres Problem.
Das Moskauer Überwachungsnetzwerk erstreckt sich mit mehr als 105.000 Kameras über die ganze Stadt. Die Gesichtserkennung ist seit Januar 2020 aktiv, es soll sich weltweit um eines der größten KI-gestützten Überwachungsnetzwerke handeln.
Roskomsvoboda fordert Aufnahmestopp
Die Datenschutzgruppe zeigt sich entsetzt über den eigenen Fund und kritisiert, dass es weder Regeln noch Kontrollmechanismen für den Umgang mit Gesichtserkennung gebe. Durch die detaillierte Verfolgung sei es möglich, die Lebensgewohnheiten von Menschen zu protokollieren und Verhaltensprofile zu erstellen.
Bis entsprechende Regeln existierten und Missbrauch ausgeschlossen werden könne, müssten die Aufnahmen gestoppt werden, fordert Roskomsvoboda in einer Anklageschrift.
"Jeder Verrückte kann dir nachstellen; Kriminelle können beobachten, wann und wo du hingehst und dann in deine Wohnung einbrechen oder dich überfallen - alles kann passieren", sagt Roskomsvoboda-Anwältin Ekaterina Abashina.
Anfang März 2020 urteilte ein Moskauer Gericht, dass Gesichtserkennung kein Verstoß gegen die Privatsphäre darstellt. Derzeit läuft eine Klage gegen das Moskauer Überwachungssystem vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Bei einer Demonstration wurde es für die Überwachung der Teilnehmer eingesetzt, was das Recht auf Privatsphäre und Versammlungsfreiheit verletzen soll.
Die Risiken und Chancen von KI-gestützter Überwachungstechnologie und Gesichtserkennung diskutieren wir ausführlich im MIXED.de Podcast #180.
Quelle: Thomas Reuters Foundation