Was ist eigentlich Künstliche Intelligenz? Zählen Schachcomputer, eine Autovervollständigung oder lernende Systeme schon dazu - oder beginnt das KI-Zeitalter wirklich erst, wenn eine Super-KI erwacht?
Wer sich intensiv mit Künstlicher Intelligenz befasst, wird schnell feststellen, dass jeder KI-Fortschritt zwei Merkmale aufweist. Ihn zu erklären, ist ganz schön kompliziert. Und es gibt immer jemanden, der in die Kommentarspalte schreibt: "Mit echter Künstlicher Intelligenz hat das aber gar nichts zu tun!" Stimmt das?
Die Anfänge Künstlicher Intelligenz
Der Begriff Künstliche Intelligenz entstand 1956 auf der Dartmouth-Konferenz in Hanover, New Hampshire und sollte ein Forschungsfeld bezeichnen. Ziel dieses Feldes: die Erforschung und Entwicklung intelligenter Agenten.
Als intelligenter Agent gilt jedes Gerät, das seine Umgebung wahrnimmt und Maßnahmen ergreift, die seine Chance maximieren, seine Ziele erfolgreich zu erreichen. Sie werden üblicherweise in Kategorien aufgeteilt, die von einfachen bis hin zu komplexen Agenten reichen.
Im Standardwerk "Artificial Intelligence: A Modern Approach" der KI-Forscher Stuart Russel und Peter Norvig finden sich fünf Kategorien:
- einfacher Reflex-Agent
- modelbasierter Agent
- zielbasierter Agent
- nutzenbasierter Agent
- lernender Agent
Die Reihenfolge spiegelt eine Hierarchie wider: Wie effektiv kann der Agent seine Ziele in einer sich ändernden Umgebung erreichen?
Ein Reflex-Agent reagiert statisch auf Umwelteinflüsse. Ein einfaches Thermostat erfüllt diese Bedingungen und gilt daher in der Hierarchie intelligenter Agenten als Reflex-Agent. In der Natur gehören dazu alle Lebewesen, deren Verhalten ausschließlich von Reflexen bestimmt sind.
Ein lernender Agent hingegen operiert frei in unbekannten Umgebungen und lernt neue Verhaltensweisen und eigene Ziele. Eine künstliche Variante eines solchen lernenden Agenten gibt es bisher nicht. Diese Stufe wäre mit menschlicher Intelligenz vergleichbar.
In der Praxis können komplexe Systeme wie Roboter aus mehreren solcher intelligenter Agenten bestehen, die sich die Steuerung der motorischen Funktion, Wahrnehmung, Planung und Orientierung teilen.
Maschinelles Lernen übernimmt die Künstliche Intelligenz
In den letzten Jahren hört man jedoch seltener von intelligenten Agenten, höchstens noch im Umfeld des bestärkenden Lernens (Erklärung). Das hat einen einfachen Grund: Spätestens in den 1980ern setzt sich die Erkenntnis durch, dass die symbolische KI-Forschung, in der statische Programme logische Operationen mit Wissen aus Datenbanken durchexerzieren, keine Fortschritte mehr schafft.
Logisches Denken lässt sich leicht in einer Programmiersprache beschreiben, aber ein Verständnis der Umwelt zu schaffen, die Fähigkeit zu Sehen oder Sprache zu verstehen, ist zu komplex, um sie mit den statischen Lösungen zu meistern.
Die "Good Old-Fashioned Artificial Intelligence" stirbt aus und der Begriff "Lernen" taucht in immer mehr Fachbüchern auf. Es ist der Beginn des Siegeszugs des maschinellen Lernens: Neuronale Netze meistern viele Aufgaben, an denen symbolischen Systeme scheiterten.
Ab 2010 folgt dann der Durchbruch mit Deep Learning: Tiefe neuronale Netze brechen einen KI-Rekord nach dem anderen. Diese neuronalen Netze können zwar Teil intelligenter Agenten sein, doch vor allem im englischsprachigen Raum wird Machine Learning fast synonym mit KI-Forschung verwendet – auch herbeigeführt durch Unternehmen wie Google, Amazon oder Netflix.
Die Bedeutung des Begriffs Künstliche Intelligenz wandelt sich
In diesem Zeitraum kommt es zu einer Fusion zweier Welten: KI-Forschung trifft auf Popkultur.
In der Öffentlichkeit steht der Begriff Künstliche Intelligenz nicht für ein Forschungsfeld, sondern für eine intelligente, künstliche Entität, beeinflusst von Science-Ficition-Darstellungen wie HAL 9000 aus "2001: Odyssee im Weltraum".
Diese intelligenten Entitäten agieren wie Menschen, nur ohne die Menschlichkeit. Sie sind oft sogar intelligenter als wir, selbstbestimmt, bewusst und haben etwas Großes vor, wahlweise die Zerstörung oder Rettung der Menschheit.
Angetrieben vom Erfolg des maschinellen Lernens übernehmen bald Unternehmen, Medien, Öffentlichkeitsarbeiter und einige Forscher diesen objektbezogenen KI-Begriff.
Wer also heute "Mit echter Künstlicher Intelligenz hat das aber gar nichts zu tun!" in Kommentarspalten schreibt, der meint nicht: "Das ist kein Ergebnis des Forschungsfeldes Künstliche Intelligenz." Er meint wahrscheinlich: "Dieses System ist nicht intelligent."
Wenig überraschend steht im Zentrum dieser KI-Kritik also der schwammige Intelligenzbegriff selbst. Auch wenn der Begriff "künstlich" ebenso unklar ist – aber das ist ein anderes Thema.
KI ist, was nicht erreicht wurde
Also müssen wir nur klären, was Intelligenz bedeutet und die Diskussion, was Künstliche Intelligenz ist und was nicht, wäre ein für alle Mal erledigt. Leider ist es nicht so einfach.
Hier lohnt sich ein Blick auf die Geschichte der KI-Entwicklung, in der sich zeigt, dass KI-Kritiker häufig selbst nicht genau wissen, was sie unter Intelligenz verstehen.
Immer wieder scheinen Aufgaben, die früher einmal Intelligenz benötigten, plötzlich ohne diese möglich zu sein: Zeichen-, Bild- und Spracherkennung, Schachspielen oder glaubwürdige Texte schreiben, galten früher als aussagekräftige KI-Tests. Gängige KI-Systeme erfüllen diese Ansprüche mittlerweile, die jedoch für viele nicht mehr oder weniger zählen.
Dieses Phänomen trägt den Namen "KI-Effekt" und wurde von dem Computerwissenschaftler Larry Tesler wie folgt auf den Punkt gebracht: "KI ist, was auch immer noch nicht erreicht wurde."
Der KI-Effekt verdeutlicht, wie schwer der Begriff Intelligenz zu fassen ist. Die Suche nach einer einfachen Definition beweist das: Mal ist Intelligenz das, was wir mit Intelligenztests messen. Mal ist sie ein Sammelbegriff für alle möglichen kognitiven Fähigkeiten. Mal ist intelligent, was sich intelligent verhält, mal ist intelligent, was im Inneren intelligent funktioniert.
Biologische Intelligenz hat Abstufungen
Ein Blick in die Kognitionsforschung, Psychologie oder kognitive Verhaltensforschung macht deutlich, dass es keine einfache Antwort auf die anspruchsvolle Intelligenzfrage gibt.
Intelligenz kommt in Abstufungen, soweit scheinen sich alle einig zu sein: Wir bezeichnen neben Menschen auch Delphine, Hunde, Vögel oder Bienen als mehr oder weniger intelligent.
Begriffliche Unterscheidungen wie enge und generelle Künstliche Intelligenz versuchen, diese Differenzierung unterschiedlicher Intelligenzformen sprachlich zu fassen.
Enge KIs lernen und meistern nur eine oder wenige Aufgaben und kommen nicht mit sich verändernden Umgebungen klar. Eine generelle KI hingegen soll eine generalisierte Lernfähigkeit und Intelligenz zeigen.
Je nach Vorstellung ist die dann menschengleich oder uns haushoch überlegen, da wohl auch der Mensch als Produkt der Evolution nicht für jedes Problem eine Lösung finden oder es überhaupt erkennen kann.
Die Adjektive "eng" und "generell" helfen im KI-Kontext also, Abstufungen auszudrücken. Aber das beweist noch nicht, dass entsprechende Systeme zu Recht als intelligent bezeichnet werden dürfen.
Intelligenz, Veränderung und Lernen
Nun kann ich zum Ende dieses Artikels keine endgültige Lösung für dieses sprachliche Problem anbieten. Die Gründe dafür habe ich bis hierher hoffentlich nachvollziehbar dargelegt.
Ich möchte aber gerne meine persönliche Einschätzung einbringen: Ich halte die Zuschreibung von Intelligenz für aktuelle KI-Systeme für angebracht.
Die Tatsache, dass wir Intelligenz in Abstufungen beschreiben, zeigt, dass der Begriff entweder völlig unklar ist oder ein breites Spektrum von Fähigkeiten mit unterschiedlich hohem Entwicklungsstand umfasst. Der Gebrauch des Begriffs in den Naturwissenschaften bestätigt letztere Vermutung.
Intelligenz ist jedoch nicht mit diesen Fähigkeiten identisch – im Gegenteil: Intelligenz ist die Kapazität, effizient neue Fähigkeiten zu lernen. Diese Kapazität kommt in unterschiedlichen Graden. Manche Lebewesen sind effizienter beim Lernen neuer Fähigkeiten als andere. Je effizienter also ein System eine neue Fähigkeit erlernt, desto intelligenter ist es.
Es gibt unterschiedliche Ideen, was genau einen solchen Lernprozess ausmacht. Der KI-Forscher François Chollet vermutet, dass es Abstraktion und logisches Denken benötigt. Ein biologisches oder künstliches System, das autonom solche Abstraktionen herstellen und damit lernen kann, gilt dann als intelligent.
Intelligenz ist ein Messwert
In diesem Sinne würde Intelligenz eine Art Messwert sein, der aussagt, wie effizient ein System autonom Abstraktionen bildet und damit lernt. Aktuelle maschinelle Lernsysteme benötigen noch reichlich Trainingsmaterial und beim überwachten Lernen (Erklärung) viel menschliche Unterstützung.
Dennoch lernen sie und bilden je nach Größe unterschiedliche Formen von Abstraktionen. In diesem Sinne sind sie auf der Intelligenzskala verordnet – wenn auch sehr weit unten. Sie als "enge KI" zu bezeichnen, ergibt daher Sinn, da sie außerhalb ihrer Domäne alles neu lernen müssen.
Womöglich erleben wir gerade mit der Entwicklung von massiven Sprachmodellen wie GPT-3 eine Übergangsphase, in der KI-Systeme entstehen, die mehrere Domänen beherrschen und zu sogenanntem Few-Shot-Learning (Erklärung) fähig sind. Diese Systeme benötigen nur wenige Beispiele, um basierend auf vorhandenen Fähigkeiten neue zu lernen.
Der KI-Chef der PR-Firma Edelman schlug für solche Systeme kürzlich den Begriff "Transitional AI" vor, da sie einen Übergang von enger zu genereller oder sogar menschengleicher KI sein könnten. Eine definitive Aussage dazu wird erst möglich sein, wenn OpenAI GPT-3 anderen Wissenschaftlern komplett für Tests öffnet oder ein ähnlich mächtiges System eines anderen Herstellers Open Source wird.
Fazit: KI ist, was du daraus machst
Der Begriff Künstliche Intelligenz kann also ein Forschungsfeld meinen, eine menschengleiche Intelligenz oder ein System, das lernt und wie biologische Intelligenz mit verschiedenen Kapazitäten auftritt. All diese Zuschreibungen sind legitim.
Eine generelle oder menschengleiche Künstliche Intelligenz wäre mit letzterem Begriffsverständnis nicht die erste KI, die wirklich eine „echte“ intelligente, künstliche Entität wäre. Sie wäre im Verhältnis zu ihren Vorgängermodellen das, was Menschen zu den ersten Einzellern sind.
Podcast: KI & Philosophie
Mit dem Techphilosophen Vincent C. Müller sprechen wir unter anderem auch über die Frage, ob KI wirklich intelligent ist - vielleicht sogar schon als einfache Wenn-Dann-Schleife? Seine Antworten hört ihr im folgenden Video.
Hinweis: Dieser Artikel wurde zuerst am 06.09.2020 veröffentlicht. Er wurde am 11. September 2021 überarbeitet und erneut publiziert.