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Eine geleakte Liste zeigt, dass zahlreiche europäische Sicherheitsbehörden die umstrittene Gesichtserkennungs-App Clearview AI testeten – sogar dann, wenn ihr Einsatz eigentlich verboten ist.

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Die Gesichtserkennungs-App Clearview sorgte Anfang 2020 für eine intensiv geführte Debatte über den oft unregulierten Einsatz von Gesichtserkennung in Sicherheitsbehörden. Laut Clearview-Chef Hoan Ton-That kam die App bei über 2400 Sicherheitsbehörden zum Einsatz.

Möglich war die schnelle Ausbreitung der App auch durch eine Testphase, in der Mitarbeitende von Sicherheitsbehörden Clearview kostenlos testen konnten – ohne vorher eine Genehmigung von Vorgesetzten zu benötigen.

Im Juli 2020 zog sich Clearview aus Kanada zurück, da die kanadische Datenschutzbehörde Ermittlungen gegen das Unternehmen eingeleitet hatte. In den USA gab es Klagen in Illinois und Kalifornien. Hamburger Datenschützer befanden die biometrischen Profile von Europäern als rechtswidrig und in Schweden straften Datenschützer die behördliche Clearview-Nutzung ebenfalls ab.

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Jetzt veröffentlicht Buzzfeed eine Liste von Ländern, die bis 2020 außerhalb der USA Clearview einsetzten. Die Liste hat 88 Einträge, darunter sind zahlreiche europäische Sicherheitsbehörden.

Überwachung mit Clearview: Verantwortliche waren laut eigenen Angaben ahnungslos

Die von Buzzfeed veröffentlichte Liste stammt aus einer anonymen Quelle und enthält ausschließlich öffentlich finanzierte Einrichtungen, die Clearview zwischen 2018 und Februar 2020 einsetzten. Laut Buzzfeed existiert zusätzlich eine Liste mit Unternehmen darauf, die bislang unveröffentlicht ist.

Bis Februar 2020 wurde Clearview von 88 Behörden außerhalb der USA getestet oder eingesetzt. | Bild: BuzzFeed News

Von den 88 Behörden in der Datenbank bestätigten 36, dass ihre Mitarbeitenden Clearview eingesetzt haben. Verantwortliche von neun dieser Organisationen gaben an, dass sie nicht wussten, dass ihre Mitarbeitenden sich für die kostenlose Testversion angemeldet hatten, bis sie aufgrund der Anfrage von Buzzfeed und anderen Journalist:innen nachforschten.

Beamte von drei weiteren Einrichtungen bestritten zunächst, dass ihre Mitarbeitenden Clearview nutzten, korrigierten ihre Aussage jedoch später.

Zehn der 88 Behörden lehnten eine Auskunft zum Einsatz von Clearview ab. Zwölf Organisationen verneinten jegliche Nutzung von Clearview und 30 Organisationen reagierten einfach gar nicht.

Empfehlung

Europäische Behörden: Early-Adopter bei Gesichtserkennung

Unter den 24 Staaten, in denen Clearview getestet oder mehrfach eingesetzt wurde, sind neben Kanada und Australien auch autoritäre Staaten wie Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate vertreten.

Der Großteil der Nutzer liegt jedoch auf dem europäischen Kontinent. Sicherheitsfachkräfte in insgesamt 18 Staaten nutzten die Gesichtserkennung von Clearview: Belgien, Dänemark, England, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Serbien, Schweiz, Slowenien und Spanien.

In einigen Fällen liegen die Zugriffszahlen auf die App unter fünf, in anderen bei bis zu 1000. In vielen Fällen gaben die jeweiligen Behörden an, die Clearview-App sei nur zu Testzwecken eingesetzt worden. Doch auch Tests sind mitunter verboten.

Besonders beliebt war Clearview in England: Dort testeten neun Organisationen die App, darunter die National Crime Agency mit 500 bis 1000 Zugriffen. Deutsche Behörden tauchen in der Datenbank nicht auf.

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Clearview-Leak löst Untersuchung in der Schweiz aus

In der Schweiz hat die Enthüllung jetzt erste Folgen: Einem Bericht des Tagesanzeigers zur Folge leitete der Züricher Datenschutz eine Untersuchung bei der Stadtpolizei Zürich ein, die in der Liste von Buzzfeed auftaucht.

Auf Anfrage habe Judith Hödl, Mediensprecherin der Stadtpolizei Zürich, die Verantwortung an die Beamten weitergegeben: „Die Stadtpolizei Zürich verwendet keine Clearview-Software und hat auch keine Kenntnis davon, dass Mitarbeitende diese verwenden oder verwendet haben sollen“, so Hödl. „Wir können jedoch nicht ausschließen, dass sich jemand mit seiner E-Mail-Adresse der Zürcher Stadtverwaltung registriert und das Tool privat nutzt.“

Ein Polizei-Insider habe jedoch bestätigt, dass Kolleg:innen frei verfügbare Software für den Bildabgleich nutzten, „so etwas wie die Google-Bildersuche und keine offiziell gekaufte Gesichtserkennungssoftware“. Diese Tools würden aber nicht systematisch eingesetzt.

In zwei Fällen soll Clearview oder eine andere Gesichtserkennungssoftware zur Verhaftung geführt haben. Dabei ist der Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie in der Schweiz illegal, sagt Monika Simmler, Strafrechtsprofessorin an der Universität St. Gallen.

Überwachungstechnologie lohnt sich

Clearviews Unternehmensbewertung stieg derweil nach einer Finanzierungsrunde von 30 Millionen auf 130 Millionen US-Dollar. „Die Strafverfolgungsbehörden entwickeln sich ständig weiter und übernehmen zwangsläufig neue Technologien. Die revolutionäre Bildersuche und die Identifizierungsfunktionen von Clearview haben sich bei der Überführung unerkannter Verbrecher als bahnbrechend erwiesen“, sagt Clearview-CEO Ton-That.

Für das ebenfalls umstrittene Überwachungsunternehmen Anyvision ist Clearviews finanzielle Ausgangslage beinahe schon Kleingeld: Das Start-up für Gesichtserkennung sammelte kürzlich 235 Millionen US-Dollar ein, das gesamte Investitionsvolumen seit der Gründung 2015 liegt bei rund 350 Millionen US-Dollar.

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Zu den Investoren gehören unter anderem Qualcomm und die deutsche Bosch-Gruppe. Microsoft investierte ebenfalls, zog sich jedoch nach einem aufgedeckten Überwachungsprojekt im Westjordanland bei Anyvision zurück. Die Software von Anyvision wurde auch von der Bundespolizei bei einem Pilotprojekt für KI-Kontrolle am Berliner Südkreuz getestet.

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Max ist leitender Redakteur bei THE DECODER. Als studierter Philosoph beschäftigt er sich mit dem Bewusstsein, KI und der Frage, ob Maschinen wirklich denken können oder nur so tun als ob.
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