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Kommentar

Die Europäische Kommission hat erstmals KI-Regeln veröffentlicht. Sie sind ein Kompromiss, viele sind unzufrieden. Dennoch sind die Regeln wegweisend.

"Ein Kompromiss ist die Lösung eines Konflikts […] unter beiderseitigem Verzicht auf Teile der jeweils gestellten Forderungen", heißt es in der Wikipedia über das unbeliebte Einigungsverfahren. Wenn das Beklagen dieses Verzichts im Nachhinein ein Hinweis auf die Qualität des Kompromisses ist, hat die EU-Kommission ein wahres Meisterwerk abgeliefert.

In ihrem Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz versucht die EU einen Mittelweg zwischen potenziellem Missbrauch und möglichen Vorteilen der Technologie zu gehen. Europa soll sich als KI-Macht neben den USA und China etablieren und gleichzeitig das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Technologie stärken.

Man wolle, dass die Bürger in Künstliche Intelligenz vertrauen können, sagte Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission. Technologie sei immer neutral, es käme darauf an, was wir daraus machen. Keine andere Binsenweisheit wird im KI-Kontext häufiger zitiert. Falsch ist sie dennoch nicht.

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Mehr Kontrollen, mehr Daten, mehr Startups

Um dieses Vertrauen zu gestalten, sollen KI-Systeme, die in kritischen Einsatzbereichen aktiv sind, besonders intensiv kontrolliert werden: KI im Gesundheitswesen, für die Polizei oder im Straßenverkehr sollen transparent und nachvollziehbar und Daten für das KI-Training vorurteilsfrei sein. Die KI-Systeme sollen von Menschen beaufsichtigt und von Behörden geprüft und zertifiziert werden.

Vom Einsatz Künstlicher Intelligenz verspricht sich die EU allerhand Vorteile im Kampf gegen den Klimawandel, für die Mobilität oder bei der Gesundheitsversorgung.

Die KI-Schmieden in Europa sollen durch einen zentralen, von der EU kontrollierten Datenmarkt gefördert werden. Dieser Markt sammelt die Daten europäischer Staaten, Industrien und auch der Bürger – alles im Rahmen der bereits geltenden Datenschutzverordnung, versteht sich.

Dieser Datenmarkt soll an der bestehende Datenhoheit von Tech-Unternehmen wie Google oder Facebook kratzen und Forschern, Mittelständlern und Startups in Europa Zugang zu großen Datenmengen verschaffen, die sie nicht aus eigenen Mitteln generieren können.

EU-Weißbuch zu KI: Branchenverbände und Datenschützer sind unzufrieden

Das Konzept des Datenmarkts stößt innerhalb der Industrie auf viel Zuspruch. Für Skepsis hingegen sorgen die geplanten Prüfungen und Zertifizierungen von KI-Systemen.

Empfehlung

Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), der IT-Branchenverband Bitkom, der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) und der Bundesverband IT-Mittelstand e.V. (BITMi) teilen eine Botschaft: Europäischer Datenmarkt ja, überbordende Regulierungen nein. Diese seien innovationshemmend und rückwärtsgewandt. Bestehendes EU-Recht sei bereits ausreichend oder auch ausreichend hinderlich, wenn es etwa um die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gehe.

Auf der anderen Seite stehen der TÜV-Verband, Datenschutzorganisationen und einzelne EU-Abgeordnete. Joachim Bühler, Geschäftsführer des TÜV-Verbands, fordert etwa Regulierungen für alle KI-Anwendungen und nicht nur für solche, die als kritisch eingestuft werden.

European Digital Rights (EDRi) beklagt ein fehlendes Verbot von KI-Überwachung durch Gesichtserkennung, Scoring und andere Technologien. Das fehlende Verbot kritisiert auch die grüne EU-Abgeordnete Alexandra Geese: KI-Anwendungen könnten nicht nur einzelnen Personen, sondern der ganzen Gesellschaft schaden.

Patrick Breyer, EU-Abgeordneter der Piratenpartei, prangert gar einen "Überwachungskapitalismus" an und fordert ein offenes, dezentrales und datenschutzfreundliches Geschäftsmodell für den Datenhandel. Der EU-Kommission fehle der Wille, dieses durchzusetzen.

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KI-Regeln für Europa: EU betritt Neuland

Doch bei allen negativen Stimmen: Die EU-Kommission betritt mit ihren KI-Regeln Neuland. Richtiges Neuland – nicht Merkels Internet-Neuland.

Bisher gibt es weltweit keine vergleichbare, einheitliche Regulierung von KI-Anwendungen. Und diese Regulierungen müssen auf einem schmalen Grat wandern: Aktuelle KI-Anwendungen profitieren von großen Datenmengen und mit den sich ankündigenden Durchbrüchen im unüberwachten Training (Erklärung) wird der Bedarf weiter steigen.

Gleichzeitig zeigen die Massenüberwachung in China oder die Desinformationskampagnen von Cambridge Analytica die realen Gefahren des ungefilterten Datenzugriffs.

Wer von den Vorteilen der KI-Technologie profitieren will, muss sich innerhalb dieses Spannungsverhältnisses bewegen. Welchen Weg die EU-Kommission am Ende beschreitet, entscheidet sich in den nächsten Monaten. Bis dahin können noch Anmerkungen oder Änderungsvorschläge zum Weißbuch eingereicht werden.

Positive Auswirkungen der neuen KI-Regeln sind schon jetzt abzusehen: Bereits im Einsatz oder in der Entwicklung befindliche fragwürdige KI-Anwendungen müssen sich in absehbarer Zeit den neuen Regeln unterordnen – etwa das Richter-Experiment in Estland oder der KI-gestützte Arbeitsmarktservice in Österreich, der ausrechnen soll, ob arbeitsuchende Menschen noch Hilfe erhalten oder nicht.

Damit könnte die EU ihrem Ziel einer menschenzentrierten KI-Entwicklung näherkommen und durch blindes Technikvertrauen ausgelöste Fehltritte mit menschenunwürdigen Auswirkungen verhindern.

Quellen: EU, BDI, BITMi, TÜV, Heise
Titelbild: European Parliament bei Flickr. Lizenziert nach CC BY 2.0.

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Max ist leitender Redakteur bei THE DECODER. Als studierter Philosoph beschäftigt er sich mit dem Bewusstsein, KI und der Frage, ob Maschinen wirklich denken können oder nur so tun als ob.
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